Die Stadt - ein Streifzug
Das Erste, was einem modernen Menschen beim Betreten einer mittelalterlichen Stadt auffallen würde, wäre der Geruch.
Auf den unbefestigten, vom Regen schlammigen Strassen liegt der Unrat von Wochen. Ausscheidungen von Mensch und Tier, Haus- und Gewerbeabfälle machen die Strassen unwegsam. Vereinzelt, wenn auch verboten, streift ein Schwein durch die Gasse auf der Suche nach Fressbarem. Hühner flattern aufgescheucht gackernd umher.
Die Häuser sind dicht gebaut und ragen mit ihren obersten Stockwerken teilweise in die Gassen hinein. Mancherorts ist es so schlimm, dass selbst am Tage nur ein Dämmerlicht in die Strasse dringt. Wer hier nicht auf seine Schritte acht gibt, kann sehr schnell bös hinfallen.
An die bunt bemalten und reich verzierten Fachwerk- und Steinhäusern der wohlhabenderen Bürgern lehnen sich teilweise Bretterbuden und Hütten an. Vermietet für viel Geld die Behausungen der Gesellen, Mägde und Taglöhner. Auf kleinen Feuern neben den Hütten köchelt ein Brei. Das feuchte Holz quamlt sehr, und der Rauch kratzt im Hals beim Luftholen.
Die Dächer sind mit Holz- oder Brettschindeln gedeckt und mit Steinen beschwert. Dachziegel haben nur die repräsentativsten Gebäude dieser Stadt. Die enge Bebauung und das viel verwendete Holz tragen nicht unerheblich zur Brandgefahr bei.
Je näher wir dem Marktplatz kommen, desto enger wird es in der Gasse. Händler und Handwerker verkaufen ihre Waren aus dem untersten Stockwerk ihrer Häuser. Auf heruntergeklappten Fensterladen werden sie zum Kauf angeboten. Direkt da hinter befindet sich die Werkstatt oder das Lager. Im Gedränge muß man gut auf seinen Geldbeutel achtgeben, denn hier fallen die Beutelschneider kaum auf.
Ein Ochsenkarren taucht hinter uns auf. Laut fluchend bahnt sich der Bauer seinen Weg zum Markt. Da er nur im Schneckentempo vorwärts kommt, nutzen Kinder die Gelegenheit und stiebitzen einige Birnen von der Ladefläche. Die Gasse lichtet sich; wir sind endlich auf dem Marktplatz angekommen.
An der Kirche steht der Schreiber und bietet seine Dienste an. Bauern verkaufen Milch, Käse, Obst und Gemüse. Händler bieten exotisch duftende Gewürze und Seifen an. Die Frau des Fleischhauers verscheucht Fliegen vom Fleisch, das vor ihr auf dem Tisch zur Auslage liegt. Links daneben steht eine alte Frau und verkauft Äpfel. Man sieht ihr an, dass das Obst wohl nicht aus ihrem Garten stammt. Ein Pastetenbäcker bietet lautstark seine Ware an. Sie duften verführerrisch nach köstlichen Gewürzen, saftigem Fleisch und warmen Teig. Frisch aus dem fahrbaren Backofen, kann kaum jemand dieser Köstlichkeit wiederstehen.
Unten am Hafen überlagert der Geruch von Fisch und Tang alles. Beim Entladen der Schiffe huschen immer wieder Ratten vor die Füße der Arbeiter. Möwen kreisen kreischend über uns. Am Kai stapeln sich Fässer, in deren Bäuchen die Ware über das Meer transportiert wird. Von aussen ist nicht erkennbar, was für Güter drin verborgen sind. Einzig ein eingeritztes Zeichen gibt Auskunft über den Besitzer. Am Horizont segelt langsam eine Kogge Richtung Meer. Wohin die Reise wohl geht?
von J. Dix-Kruse